Welfare and Economics

Aktuelles und Wissenswertes zur deutschen Sozialhilfe, manchmal verbunden mit ökonomischen und philosophischen Gedanken

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Bericht vom 2. Deutschen Sozialgerichtstag

Posted by welfareandeconomics - Freitag, 5. Dezember 2008

Am 4. und 5. Dezember fand in Potsdam der 2. Deutschen Sozialgerichtstag statt. Hier ein Bericht über die Aspekte des Kongresses, die die Sozialhilfe betreffen: 

 

Nach der – etwas langatmigen, aber wohl obligaten – Eröffnung durch diverse Grußworte, u.a. von Frau Paulat, Vorsitzende des Sozialgerichtstages e.V., Herrn Staatssekretär im BMAS Schele, Herrn Masuch, Präsident des BSG und dem Festvortrag von Frau Ross-Luttmann , Sozialministerin von Niedersachsen, teilte sich das Auditorium zur Weiterarbeit in den Kommisionen auf.

 

In der SGB II / XII-Kommission referierten zunächst Frau Knickrehm und Herr Voelzke, beide Richter am BSG, zu Fragen der Kosten der Unterkunft in Verbindung mit § 22 SGB II. Kernpunkte waren

1.)  der Begriff der angemessenen Kosten der Unterkunft, wobei der Schwerpunkt der Betrachtung dem Adjektiv der Angemessenheit gewidmet war,

2.)  die Ermittlung der angemessenen Kosten der Heizung und der übrigen „kalten“ Nebenkosten,

3.)  Fragen der Warmwasserbereitung und weiterer Energiekosten im Regelsatz sowie

4.)  das „Kostensenkungsmanagement“ – also die Senkung von unangemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung auf das angemessene Maß.

 

Zu jedem der Punkte wurde der Stand der Rechtsprechung durch das BSG dargestellt und aus Sicht der BSG-Richter offene Fragen angesprochen. Aus der Vielzahl der dabei gefallenen Anmerkungen möchte ich nur drei hervorheben, die aus Sicht der Praktiker höchst diskussionswürdig sind:

       Das BSG-Urteil vom 18.06.2008 zu den Tilgungsleistungen bei Eigentumswohnungen (Az. B 14/11b AS 67/06 R) wird offenbar für nahezu allgemein gültig angesehen. So jedenfalls konnte man die diesbezüglichen Äußerungen von Prof. Voelzke verstehen, wenn auch Frau Knickrehm anschließend noch hervorzuheben meinte, sie könne dazu noch etwas sagen, unterlasse dies jedoch aus Zeitgründen. Wer als Praktiker dieses Urteil kennt, wird zu Recht mit Schaudern darin gelesen haben, dass die Übernahme von Tilgungsraten (die ja dem Vermögensaufbau dienen) zum Bedarfsumfang im SGB II gehören sollen. Bislang wird dieses Urteil als Einzelfallentscheidung gewertet und nicht flächendeckend angewandt, bis das BSG seine Meinung diesbezüglich durch weitere Rechtsprechung festigt. Es stellt jedenfalls einen enormen Bruch mit einem wesentlichen Aspekt bisheriger Existenzsicherungsleistungen dar, nämlich einer Notlage abzuhelfen und nicht Vermögen anzusparen.

       Es ist aus Sicht des BSG prüfenswert, ob unangemessene Kosten der Heizung auch zur Kostensenkungsaufforderung durch den Leistungsträger berechtigen. Normativ findet man jedenfalls einen Unterschied in den ersten drei Sätzen des § 22 Absatz 1 SGB II. Während in den ersten beiden Sätzen jeweils gleichzeitig von Kosten der Unterkunft und Heizung gesprochen wird, fehlen die Heizkosten im dritten Satz. Fraglich ist, was die dahinter stehende Intention des Gesetzgebers gewesen sein soll. Während die Richter des BSG für einen analoge Anwendung der Vorschrift auch auf die Kosten der Heizung plädierten (dies auch unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung, die jeweils mit dem Begriff der „Kosten der Unterkunft“ alle diesbezüglichen Kosten meint), sprach sich der Vertreter des BMAS für eine differenzierte Auslegung aus, mithin der Nichtanwendbarkeit.

       Das BSG sieht es offenbar immer noch als klärungsbedürftig an, wie der Warmwasseranteil im Regelsatz zu ermitteln ist. Zu dem betreffenden Urteil des BSG habe ich hier ja weiter unten bereits ausführlich Stellung genommen. Nun sei es aber immer noch zu fragen, ob dem BMAS – und damit wohl allen Praktikern derzeit – darin zu folgen ist, dass der Anteil jeweils aufgrund einer veränderten EVS (zuletzt jetzt 2003) neu zu ermitteln ist, oder ob nicht gerade die für die ursprüngliche Bildung des Regelsatzes (seinerzeit die von 1998 ) maßgeblichen Beträge entsprechend der Vorschrift des § 20 Absatz 4 SGB II fortzuschreiben sei. Dies hatte das BSG in seinem Urteil getan, das BMAS hatte darin einen Fehler erkannt und den anderen Weg verfügt, was im Ergebnis für die Leistungsbezieher ungünstiger ist. (Kleiner Seitenhieb: Man sieht daran, dass meine hier ursprünglich errechneten Bereinigungsbeträge – siehe unten – sehr wohl ihre Berechtigung hatten und möglicherweise sich sogar als „richtig“ herausstellen werden – ich will mich aber nicht mit fremden Federn schmücken, denn meinen Ausführungen fehlte ja eine derartige Begründung…)

 

Was nun die Diskussion am Nachmittag in der Kommission wirklich in Schwung brachte, waren vier Vorschläge von Knickrehm/Voelzke, die dem Plenum zur Abstimmung bzw. Diskussion gestellt werden sollten und in denen Forderungen nach gesetzgeberischer Weiterentwicklung formuliert wurden. Vorab, keiner der Vorschläge wurde angenommen, nur einer wurde tatsächlich abgestimmt.

 

  1. Aufforderung des Verordnungsgebers, von der Ermächtigung des § 27 Nr. 1 SGB II Gebrauch zu machen und eine Verordnung zu erlassen, die die Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft regelt.
  2. Ausweitung der Produkttheorie auf eine „Bruttowarmmiete“, will sagen: es sollten nur die Gesamtkosten der Wohnung der Angemessenheitsprüfung unterzogen werden, nicht aber die drei Einzelbestandteile (Kaltmiete, Betriebskosten und Heizkosten) getrennt voneinander.
  3. Die Gewährung eines Zuschusses (durch Ausweitung des § 23 Absatz 3 SGB II) für die Anschaffung ernergieeffizienter Elektrogroßgeräte; konkret beispielsweise einen Kühlschrank der Klasse A++ – genannt wurde der Vorschlag: „flankierende energiepolitische Maßnahmen“
  4. Die Einführung eines finanziellen Anreizes dafür, dass Leistungsberechtigte eigeninitiativ sich bemühen, die (ob nur die unangemessenen oder auch die angemessenen blieb leider offen) Kosten der Unterkunft zu senken.

 

Gerade die letzten beiden Punkte fordern zur Gegenrede geradezu heraus.

 

zu 3.)

Hier werden ernergiepolitische Ziele mit Mitteln des Fürsorgerechts verfolgt. Man muss sich in diesem Fall fragen lassen, welche Anknüpfungspunkte es geben soll, gerade die Energiepolitik als Spielfeld der Sozialgesetzgebung zu machen, hingegen alle anderen Politikbereiche auszunehmen. Was spricht dagegen, auch zum Einkauf von Bio- oder Öko-Lebensmitteln Anreize zu setzen. Was spricht dann noch gegen eine Förderung der Anschaffung von Kraftfahrzeugen mit Hybridantrieb, die in der Regel nicht mit dem derzeit genannten Betrag von 7.500 € zu erwerben sind. Dann müsste es aber auch gefordert werden, nicht mehr auf billige Kleidung aus Fernost angewiesen zu sein, deren Herstellungsbedingungen nicht immer klar den europäischen Arbeitsvorschriften entsprechen dürften. Man sieht: Die Liste wird endlos und damit wird klar, dass derartige Fragen im Sozialhilferecht nichts zu suchen haben.

 

zu 4.)

Das System de SGB II und auch des SGB I (und andere Sozialgesetze, vielleicht sogar die Gesetzgebung insgesamt) geht von der Grundannahme aus, dass man sich gesetzeskonform verhält. Verstößt man dagegen, wird dieses Verhalten sanktioniert, es wird aber gerade nicht gesetzeskonformes Verhalten belohnt. Wieder muss man sich die Frage gefallen lassen, warum gerade an dieser hier genannten Stelle, eine Belohnung dafür gegeben werden soll, den Maßstäben des Gesetzes zu entsprechen. Dann kann man auch eine Belohnung für die rechtzeitige Vorlage von Kontoauszügen oder anderen Mitwirkungspflichten der §§ 60 ff. SGB I einführen, müsste im Gegenzug aber auch die Sanktion des § 66 SGB I beseitigen. Man stelle sich die Übertragung dieses Gedankens auf das Steuerrecht oder gar das Strafrecht vor …. Die Sanktion beim Wohnen in einer unangemessenen Unterkunft erfolgt nicht nach § 31 SGB II, sondern liegt darin, dass die Kostendifferenz vom Leistungsberechtigten getragen werden muss, was nur konsequent ist. Einen überlegenswerten Vorschlag gab es dann aber doch in diesem Kontext: Jemand aus dem Plenum schlug vor, den Anreiz nur dann zu gewähren, wenn Kosten, die bereits angemessen sind, noch weiter gesenkt werden. Dem wäre beizupflichten, denn in diesen Fällen würde ein Leistungsberechtigter etwas tun, wozu er nicht verpflichtet ist und beide Seiten davon profitieren.

 

Am zweiten Tag wurden die Ergebnisse der einzelnen Kommissionen dem großen Auditorium vorgestellt und es folgte noch eine sehr interessante und gut besetzte Podiumsdiskussion zum Thema „Armutsrisiko für Jugend und Alter“. Aus diesen beiden Tagesordnungspunkten des zweiten Tages auch nur wenige Stichworte:

       Die Kommission zur Pflegeversicherung hatte sich intensiv mit einer Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs befasst. Avisiert wird eine neue Klassifizierung, bei der auch kognitive Einschränkungen gewertet werden. Es sollen 6 Kriterien eingeführt, die jeweils mit unterschiedlichen Gewichten belegt werden. Diese sechs Kriterien sollen die bisherige Definition anhand von Minutenwerten ersetzen. Nach Bewertung des Umfangs der Pflegebedürftigkeit erfolgt die Einstufung in einer von vier Pflegestufen, die auch mit neuen Begriffen belegt werden sollen.

       Interessant war ferner zu hören, dass nach Wahrnehmung der Kommissionsmitglieder die Kommunen sich zunehmend ihrer Verantwortung bei der „pflegerischen Daseinsvorsorge“ im Kontext der Diskussion um die Errichtung von Pflegestützpunkten entziehen. Meiner persönliche Wahrnehmung entspricht dies bislang eben gerade nicht, mir mag aber da der Überblick fehlen.

 

       Außerordentlich aufschlussreich war dann noch in der Podiumsdiskussion die Feststellung, dass die Stimmen lauter werden, die ein Zurück in der Sozialhilfe zum ‚alten’ System der einzelfallbezogenen Leistungen forderten. Es sei immer häufiger festzustellen, dass sich Leistungsbezieher bei einmaligen Bedarfen an die Jobcenter wenden und ein Verweis auf den Ansparbetrag nutzlos ist, weil dieser verkonsumiert wurde. Damit erscheint das System der Eigenverantwortung in Verbindung mit der Pauschalierung der Leistungen gescheitert. Nicht nur vom Podium sondern auch aus dem Plenum der anwesenden Richterinnen und Richter gingen zahlreiche Stimmen in diese Richtung.

Ich selbst möchte dazu – zunächst einmal an dieser Stelle hier – einen Vorschlag einbringen, der sich aus Zeitgründen leider in der Veranstaltung nicht mehr formulieren ließ:

Was wäre von der legislativen Installation eines einmaligen Wahlrechts bei Antragstellung zu halten, bei der der Antragsteller zwischen einer leicht aufgestockten Pauschalleistung, bei der dann während des Leistungsbezugs einmalige Leistungen ausgeschlossen sind, oder alternativ einer abgesenkten Regelleistung mit dem Anspruch auf ergänzenden Leistungen auf Antrag mit Bedürftigkeits- und Verwendungsnachweis wählen kann? Die Lösung würde allen Anspruchsgruppen gerecht werden, denn die verantwortlich Handelnden, die dazu auch kognitiv und selbstdisziplinarisch in der Lage sind, könnten selbst über ihr Budget verfügen und damit disponieren, die anderen könnten mit Unterstützung Ihrer Persönlichen Ansprechpartner die einzelbedarfsbezogenen Leistungen wählen, verbunden dann natürlich mit allen Offenlegungs- und Nachweispflichten.

 

Über eine Diskussion dieses Vorschlags hier würde ich mich sehr freuen. 

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