Welfare and Economics

Aktuelles und Wissenswertes zur deutschen Sozialhilfe, manchmal verbunden mit ökonomischen und philosophischen Gedanken

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Selbstversuch – Leben mit Hartz-IV: Resümee

Posted by welfareandeconomics - Sonntag, 4. Mai 2008

Es wird Zeit, nun endlich mein persönliches Resümee zu dem letzten Monat zu ziehen. 

Was ich bei der Planung und Bekanntgabe des Versuches im Februar auf jeden Fall unterschätzt habe, ist die Art der Öffentlichkeit einer solchen Aktion. Teilweise hatte die Seite mehr als 1000 Besucher pro Tag. So der Öffentlichkeit ausgesetzt zu sein, ist nicht immer ein Vergnügen (wobei natürlich jeder Recht hat, der sagt: „Selbst Schuld – was macht er so’n Kram!“). Auch konnte ich mich nicht dem reiz entziehen, bei Tacheles mitzulesen, was dort über den Versuch geschrieben wurde. Das war nicht immer schön, gehört aber wohl dazu und scheint naturgemäß so sein zu müssen. Es gab dort auch wenige positive Stimmungen sodass man nicht alle Schreiber dort über einen Kamm scheren kann. Vielleicht hatten am Ende auch diejenigen dort Recht, die sich nicht mehr an den Diskussionen beteiligt haben – denn mein Versuch ist nicht repräsentativ (welchen Anspruch er auch nie hatte), sondern auf Selbsterfahrung gerichtet.

Die hatte ich im letzten Monat reichlich, und ich bin schon der Ansicht, dass mich das noch eine Zeit lang prägen wird. Ich schildere meine Erfahrungen mal unter einigen Überschriften: 

  • Selbstdisziplin

Ohne Frage – mit so wenig Geld auszukommen ist eine Frage der Selbstdisziplin. Man muss extrem aufs Geld achten und sich ständig zusammen reißen. Das fällt natürlich ungleich schwerer, wenn man mehr oder weniger zu einer solchen Existenz ‚gezwungen‘ wird, statt sie sich selbst aufzuerlegen. Ich habe ‚gezwungen‘ in Anführungszeichen gesetzt, weil ich nach wie vor der Auffassung bin, dass es immer Alternativen gibt. Irgendwo gibt es immer eine kleine Zuverdienstmöglichkeit, man kann umziehen in den Süden des Landes oder sonst etwas tun (und wenn’s Pfandflaschensammeln ist). Aber auch derartige Entscheidungen erfordern ein gewisses Maß an Engagement und Disziplin, wovon mir schon klar ist, dass das nicht jeder aufbringen kann.

  • Anforderungen an Haushaltungskompetenz

Dieser Punkt hängt eng mit dem oben erwähnten zusammen, umfasst aber noch etwas mehr. man muss in der Lage sein, sich sein Geld wirklich einzuteilen, den Überblick zu bewahren und wirtschaftlich zu haushalten. Die Gefahr des Verderbs von Lebensmitteln ist dabei nur ein Punkt. Ich selbst kenne persönlich Menschen, die dazu einfach nicht in der Lage sind, und die bekommen in der zweiten Monatshälfte regelmäßig Probleme. Was man da tun kann, ist mir nicht klar, denn auch 50 € im Monat mehr, würden das Problem nicht lösen, sondern allenfalls um ein paar Tage nach hinten verschieben. 

  • Essen aus Langeweile

Ein nicht zu unterschätzender Aspekt. Unter der Woche habe ich es deswegen geschafft so wenig zu essen, weil ich durch meine Arbeit abgelenkt war und oft gar keine Zeit zum Hunger haben hatte. Wenn man aber um 8 Uhr morgens seine notdürftig bestrichenen zwei Scheiben Brot aufgegessen hat, sind die 4 Stunden bis mittags eine lange Zeit. Da braucht noch einmal mehr eine Portion Selbstdisziplin. Es darf eigentlich nichts zum Essen in der Nähe sein – auch das ein Vorteil, wenn man auf der Arbeit ist – sonst wird man kaum dran vorbei gehen können. 

  • Getränke

Eine wirklich erschreckende Erkenntnis: Für Getränke – außer Leitungswasser und schwarzen Tee – ist einfach kein Geld vorhanden. Ich habe die Flasche Cola erst am letzten Tag aufgemacht, als ich sicher war, dass das Geld reicht. Leitungswasser aus Geldknappheit trinken zu müssen ist hart und führt wohl auch dazu, dass man unterm strich zu wenig trinkt, weil’s einfach kein Vergnügen ist. Ich trinke sonst auf der Arbeit neben dem Kaffee auch eine Flasche Mineralwasser. das konnte ich mir diesen Monat nicht leisten und zugegebenermaßen habe ich stattdessen Leitungswasser tagsüber nur sehr selten getrunken – will sagen: ich habe sehr wahrscheinlich in dieser zeit zu wenig getrunken.

  • gesunde Ernährung

Das war ja der Hauptstreitpunkt in diesem Monat. Meine Ernährung war wohl nicht gesund. Sie war allerdings geschuldet der Relation aus knapper Zeit und knappen Mitteln. Hätte ich den ganzen Tag Zeit gehabt, hätte ich wahrscheinlich auch öfter mal etwas Gemüse gekocht. Obst habe ich aber oft aus finanziellen Gründen weg gelassen. Allerdings hat gesehen, dass auch eine Ernährung ohne Zusatzstoffe und mit Bio-Lebensmitteln möglich ist, wenn man bereit ist, dafür weniger zu essen. 

Noch ein Frage an die Kritiker: Wie viele der gesunde-Ernährung-Kritiker sind eigentlich Raucher?

  • Stimmen aus der Kollegenschaft

Das war auch so ein Ding. Fast alle Kollegen, mit denen ich gesprochen habe, fanden die Idee gut, hatten aber keine Lust mitzumachen. Fast alle haben auch gesagt, dass sie es für nicht möglich hielten, mit dem Geld auszukommen. Niemand wollte aus dieser letzten Feststellung aber eine Schlussfolgerung für sein eigenes Handeln ziehen. Soll heißen: Viele Sachbearbeiter scheinen damit leben zu können, den Antragstellern implizit sagen zu müssen: „Ich weiß, dass Sie damit nicht hinkommen können, aber ich habe die Gesetze nicht gemacht. Ich mache hier nur meinen Job.“

Das ist mir persönlich zu wenig.

  • Abrutschen der Mittelschicht

Ich denke, ich habe in der letzten zeit etwas mehr verstanden, was das eigentliche Problem an Hartz-IV ist: Es geht gar nicht so sehr um die Menge Geld, die jemand zur Verfügung hat. Die Zeiten der alten Sozialhilfe nach dem BSHG waren sicher auch nicht besser. Es geht vielmehr darum, dass einer enormen Anzahl von Menschen ein Stempel aufgedrückt wird: „Du bist Hartz-IV!“ Die Gesellschaft spaltet sich damit in die eine und die andere Gruppe. Diejenigen, die den Stemple erhalten, haben es damit schriftlich: „Willkommen in der Unterschicht!“ Dieser gesellschaftliche Prozess ist aber nicht mehr rückholbar. Egal, wie viel man auf den Regelsatz drauf packen würde, das Stigma bleibt. Führt man sich noch die enormen Vermögensfreibeträge vor Augen – falls sie denn ausgeschöpft werden – kann rational keineswegs von Armut gesprochen werden. Aber darum geht es – wie gesagt – eben nicht. Es geht um die Spaltung in Hartz-IVler und die anderen. 

Im Übrigen haben die Kritiker Recht – das ist meine Erfahrung – dass besonders die so genannte Mittelschicht, die wohl auch durch ihren Wählerwillen in erster Linie für die Agenda 2010 gesorgt hat, sich damit ins eigene Fleisch geschnitten hat. Wer immer schon in der Unterschicht gelebt hat, hat die 50 € monatlicher Sozialhilfe gern mitgenommen und kommt auch aufgrund seines angepassten Konsumverhalten mit dem Geld aus. Hart ist es für diejenigen, die ein Mittelklasseleben gewohnt und sich nun nach 12 Monaten Alg-I extrem umstellen müssen.

  • soziale Isolierung

Das Argument habe ich von wimscha, der hier einen ausführlichen Kommentar geschrieben hat (sich aber mit seiner weiteren Antwort noch immer Zeit lässt) – es entspricht aber auch meinen Erfahrungen: Fast jede soziale Aktivität kostet Geld, und dieses Geld hat man nicht. Leben mit Sozialhilfe führt daher sicher auch zu Segregation, weil man sich auf Dauer nicht mehr mit alten Freunden treffen wird (was aber sicher auch von der Stärke der alten Gemeinschaft abhängt) und stattdessen eher mit Menschen, die auch kein Geld haben. Meine Coffee-to-go-Erfahrungen habe ich ja in diesem Monat öfter geschildert. Man hat eben einfach kein Geld, um in der Stadt einen Kaffee zu trinken oder man muss sich dieses Geld schmerzhaft irgendwo absparen, was einem auf Dauer nicht gelingen wird. 

  • Lohnabstandsgebot

Kommen wir also langsam mal zum Fazit. Leben mit Hartz-IV ist kein Spaß und oft ziemlich hart. Alle in meinem Umfeld, denen ich das gesagt habe, antworten: „Das muss auch so sein, damit der Anreiz besteht, aus eigener Kraft wieder rauszukommen.“ Auch wenn ich solche Kommentare mittlerweile etwas zwiespältig hinnehme, stimme ich dem aber dem Grunde nach zu. Ich bin sicher, dass ich mir ziemlich kurzfristig irgend etwas einfallen lassen würde, um meine Situation zu verbessern. 100 € Verdienst sind per se anrechnungsfrei. Allein auf den Ernährungsanteil bezogen, erhöhen 100 € im Monat den Anteil aber um fast das doppelte und das ist vollkommen ausreichend. 

Es muss auch der Abstand zu den Erwerbstätigen gewahrt sein. Sozialhilfe darf nicht mehr ergeben, als gering bezahlte Arbeit – das dürfte klar sein. 

  • Kritik ohne Alternative

Es bleibt also die Frage nach der Alternative. KEINER der Kommentatoren hier hat eine Alternative angeboten – auch nicht auf ausdrückliche Nachfragen! Einfach den Regelsatz um 50 € erhöhen würden meines Erachtens (fast) gar nichts bringen. Wer nicht mit dem Geld umgehen kann, wird auch 50 € mehr genauso schnell verbrauchen. 50 € vermindern noch einmal den Abstand zur arbeitenden Bevölkerung und senkt den Anreiz, da raus zu kommen. Man könnte mehr auf Sachleistungen umstellen, aber das ist mir persönlich zu paternalistisch. 

Ich würde hier gerne weiter über Ernst zu nehmende Alternativen diskutieren, also wer einen Vorschlag hat, ist eingeladen zu schreiben. 

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